Der Dschungel, die Angst und die Lebensfreude

 „Befreiung wird vor allem dadurch blockiert, dass man sich weigert, loszulassen, weil man nach Sicherheit strebt. „Loslassen“ heißt, dass (…) das Verlangen nach Sicherheit aufgegeben wird; man könnte es das Sprengen von Fesseln nennen, das Abschütteln von Angst (…): Wir entdecken, dass die Schlösser unserer Ketten verschwunden sind, heben die Arme – und unsere Fesseln fallen ab.
Aber – sie können nicht fallen, wenn wir so an ihnen hängen, dass wir ohne sie Angst haben. Vielleicht hängen die Ketten nicht mehr an uns, aber wir hängen noch an ihnen. Uns von der Anhänglichkeit an die Ketten, die uns binden, zu befreien, ist dann die eigentliche Aufgabe.“

Dr. Ernest Kurtz, 1935-2015

 

Der Dschungel

Es gibt eine positive Seite der Angst. Angst ist im Sinne einer natürlichen Körperreaktion menschlich, kann uns hellwach machen, vorausdenken lassen und regt die Kreativität an.
Grob gesagt ist Angst also eine sehr alte Reaktion und Reaktionsfähigkeit(!) des Menschen, auf Gefahren zu reagieren, und wird in unserer Nervenstruktur schnell und ohne Umwege generiert. Alle körperlichen Systeme werden dabei in Alarmbereitschaft versetzt. Die drei typischsten Reaktionen sind Fliehen, Kämpfen und Totstellen, kurz FFF (für das englische Flight / Fight / Freese).

Unsere Welt ist unglaublich voll mit Ängsten, die meisten ungerechtfertigt, eingeredet und unbegründet.

Man fragt sich, wo unsere sogenannte Zivilisation wohl falsch abgebogen sein mag.

Haben sich das Leben und die Evolution das beim Menschen wirklich so „gedacht“?
Vielleicht könnte man sich in eine Zeitmaschine setzen, ein paar Tausend Jahre zurückreisen und schauen, was Menschen damals anders gemacht haben und herausarbeiten, was die Unterschiede zu heute sind?

Jean Liedloff (1926-2011) war eine US-amerikanische Psychotherapeutin, Publizistin und Autorin. Sie hat genau das getan. Sie besuchte mehrmals die Yequana-Indianer im venezolanischen Dschungel. Sie fragte sich, woran es liegt, dass bei diesen noch fast ausnahmslos eine natürliche Authentizität und Verbundenheit vorhanden ist und Angst praktisch nur in der „natürlichen“ Form vorkommt – also als Schutzmechanismus für den Menschen bei unmittelbaren Lebensgefahren.
Bei der Lektüre ihres erstmals Mitte der 1970er Jahre erschienenen Buches Auf der Suche nach dem verlorenen Glück (seit 2020 in Neuauflage), taumelt man förmlich von einer Erkenntnis zur nächsten.

 

Angst und die Frage, wie Angst entsteht

 

Wenige Jahre später und basierend u.a. auf Jean Liedloffs Erkenntnissen bereitete der Psychotherapeut Rainer Taëni das Thema ausführlich auf. Er beschreibt zwei Stufen:

Es gibt wie bei anderen Tieren auch beim Menschen ein „Erwartungskontinuum“, also die fest verankerte Erwartung, in einer ganz bestimmten Zeit bestimmte Triebbedürfnisse erfüllt zu bekommen. Es entsteht in dieser ersten Stufe Angst, wenn eben diese Triebbedürfnisse des  Kleinstkindes nicht (rechtzeitig) erfüllt werden. Dabei handelt es sich um die folgenden:

=> Totales, uneingeschränktes Akzeptiert Sein
=> Umfassender Körperkontakt (mit allen Sinnen)
=> Freiheit zu kreativem Erforschen und zu spielerischem Experimentieren mit Bezug zur Umwelt
=> Ungehinderter Ausdruck aller Gefühle
=> Eigener Wachstumsrhythmus, in dem Selbstverantwortung zunehmend praktiziert werden kann.

Weitere, eigenständige Triebe, die ihrerseits genauso befriedigt werden wollen: der Sozialtrieb – Anerkennung und Wohlwollen durch die Umwelt –, der Kuscheltrieb – der sich später im Erwachsenenleben als Sexualtrieb äußert –, der Spieltrieb – kreative Neugier und Lust am zweckfreien Experimentieren –, der Trieb nach Selbstausdruck – d.h. nach direktem, spontanem Ausdruck vorhandener Gefühle – und schließlich der Emanzipationstrieb – also das Bedürfnis nach Selbstbestimmung.
Wenn all diese Triebe und Bedürfnisse nicht oder nicht zur rechten Zeit befriedigt werden, wenn diese als lebensnotwendig erwarteten Verbindungen nicht zustande kommen, dann bleibt beim hilflosen und allein gelassenen Kleinkind das Fühlen unvollständig. Der resultierende Schmerz wird weitgehend verdrängt.

Die zweite Stufe ist dann die latente Angst und eine generelle Blockierung, die eben genau hieraus entsteht, ist an die Stelle der der Triebäußerung getreten.
So entstehen Muster und Programme zur Angstabwehr und außerdem zahlreiche Kompensierungen im eigenen Verhalten; und wenn das alles nicht hilft müssen Psychopharmaka her (diese können ihren Sinn haben, werden inzwischen gleichwohl viel zu schnell verschrieben).
Letztlich geht es um die verzweifelte Suche nach Heilung bzw. Linderung der dauerhaft vorhandenen inneren Spannung. Auch das sich klein Machen und die Unfähigkeit, sich selbst etwas zuzutrauen, sind letztlich eine solche Abwehr.   
Die resultierenden Abwehrstrategien sind also die eigentliche Krux und sie verstärken permanent den toxischen Angstzyklus.
Angst ist zu einem Tabu geworden und es ist die Angst vor der Angst, die uns die Lebensenergie abschnürt und zu dauerhaftem unterschwelligen Leiden führt.

Aber, nein, das Leben war nicht als Veranstaltung gemeint, in der ununterbrochen gelitten wird.

Wiedergewinnung der Lebensfreude

 

Wir können unsere Freiheit zurückgewinnen.
Es gilt, sich dem zu stellen, was die Angst – bzw. die Angst vor der Angst – wie unter einem muffigen Tuch zu schützen sucht. In langen Zeiträumen hat sich die Angst auch neurologisch tief in uns eingegraben und löst über die sog. Amygdala (eine Art Vorfilter-Einheit im Hirn) regelmäßig  Alarm im Nervensystem aus, was bis zu Panikattacken reichen kann.
Ansätze und Methoden wie etwa der sog. EmotionsCode und die Introvison, ganz besonders jedoch EMDR sind sehr gut dazu geeignet, zum Kern von alledem vorzudringen, ebendiesen Alarm zu stoppen und die Gründe für die Ängste vor der Angst an die Oberfläche zu holen. Angst kommt von „eng“ und so kann – endlich – alles wieder weiter werden.

Zwei weitere Dinge dürfen sich dann (wieder) entwickeln:

Zum einen das Zutrauen in sich selbst, Probleme und Themen im eigenen Leben zu lösen; und das in der Harmonie aller Anteile; so entsteht „Kohärenz“.
Diese wird erzeugt, wenn Denken, Fühlen und Handeln gut und stimmig zueinander passen sowie gut miteinander verbunden sind. Der Hirnforscher Dr. Gerald Hüther hat es so ausgedrückt: Es gilt, unsere „Kohärenzwiederherstellungskompetenz“ wieder zu finden – das ist dann ein Weg raus aus der Angstabwehr bzw. zu vielen Sorgen und hinein in ein Glücklich- bzw. ‚in der Mitte‘ Sein; eines, das mehr von einer heiteren Gelassenheit als von einer vorübergehenden Euphorie getragen wird.

Zum anderen führt das mutige Anschauen der Angst zu vorher kaum gekannter Klarheit und

Präsenz. Das (wirkliche) Leben ist eine Veranstaltung mit Anwesenheitspflicht und die wieder gewonnene Angebundenheit führt genau dazu.

So gelingt es, sich von der Anhänglichkeit an die Ketten, die uns binden, zu befreien. Und es entsteht grundlose, pure Lebensfreude.