♦ Selbstentdeckung mit Perspektivwechsel ♦

 

Den eigenen Roten Faden finden

Bei diesem Thema könnten wir zunächst fragen, was wir davon haben, von dieser Selbstentdeckung. Uns selbst zu ent-decken. Oder auch, was wir davon haben, eben das nicht zu tun. Es ist nämlich in aller Regel nicht im Interesse unserer inneren Muster und antrainierten Programme, dass wir uns überhaupt damit beschäftigen. Und, ja, es gibt zahlreiche Kräfte und Einflüsse im Außen, die das ebenfalls nicht so toll finden, denn wir sollen ja lieber „funktionieren“ und ganz „der oder die Alte“ bleiben“ – Warum?

Beide (die inneren und die äußeren Kräfte) wollen, dass wir uns ablenken lassen, beide wollen unsere Aufmerksamkeit und beide wollen, dass wir ihnen glauben, was sie uns in Form von Gedanken, Gedankenkonstrukten und Glaubenssätzen vorgaukeln. Die beiden Haupttreiber – es sind gewiss nicht die einzigen – die uns oft in unseren inneren Zwängen und Schleifen verweilen lassen, sind zwei leider ziemlich mächtige Faktoren: Miniglücksgefühle und Sicherheit.

 

Zunächst ins Außen:

Der neurowissenschaftliche Hintergrund dazu ist ausreichend erforscht: Es ist das Hormon Dopamin, das da am Werke ist. Das verschafft uns winzig kleine Glücksgefühle. Leider ist unsere Welt heute unglaublich stark darauf ausgerichtet, mit allen Finessen und Tricks unsere Aufmerksamkeit zu erlangen und das Belohnungszentrum in unserem Hirn anzusprechen. Dabei ist es (fast) unerheblich, ob es sich um Facebook, WhatsApp, YouTube, Online-Spiele, das Smartphone insgesamt oder irgendeine andere Ablenkungsquelle handelt – die Ablenkungen sind stets so gestaltet, dass ein Teil unseres Hirns stets nach „mehr!“ verlangt. Es entsteht eine echte Sucht danach, denn das Dopamin wirkt direkt auf das Belohnungszentrum unseres Hirns; und dass auf der anderen Seite in den allermeisten Fällen unfassbar viele Daten über uns gesammelt und damit viel Geld verdient wird, steht nochmal auf einem anderen Blatt.

 

Und wie sieht’s innen aus?

Wir funktionieren. Die eine besser, der andere schlechter. Aber die Dinge laufen so vor sich hin – und letztlich entspricht es oft nicht uns, was wir tun, sondern wir folgen nur Mustern, die wir mal vor langer Zeit gelernt haben. Hier und da halten wir es einfach nicht mehr aus – sind erschöpft und kommen gar nicht mehr in unsere Kraft. Doch dann – wir wissen’s nun schon – holen wir uns auf unseren bevorzugten Wegen die kleine oder auch mal größere Belohnungs-/Dopamin-Einheit und schon geht es wieder – irgendwie. „Muss ja“ oder „so bin ich halt“ sind die Ausreden vor uns selbst. Und ohne jede Warnung fängt ein neuer Tag an. Bei manchen allerdings geht es so Stück für Stück in Richtung Depression, Ausgebrannt-Sein und/oder in andere destruktive Süchte. Wir wollen einfach weg – von uns selbst. Was passiert da? Unterschwellig – und manchmal spüren wir das – ist da eine Fehler-suchende Instanz, die unser Tun, unser Verhalten, unser Handeln – letztlich also uns selbst ständig beurteilt. Wir sind zu dünn, zu dick, zu wenig fit, zu schüchtern, zu wenig erfolgreich (nach welcher Definition auch immer), wir sind minderwertig, zu wenig oder zu viel dies oder das. Irgendwo ist immer ein Fehler und in gewisser Weise – so sagen wir uns auf dieser Ebene – muss es ja doch so sein, dass wir selbst ein Fehler sind. Es gilt also, daran herumzuwerkeln und herumzukritisieren und vielleicht werden wir dann irgendwann endlich so, wie wir sein sollen. Nur – Wie sollen oder wollen wir denn genau sein? Seltsamerweise gibt die Fehlersuch-Instanz nie Ruhe, es ist ohnehin nie genug und wir weichen wir dieser Frage auch meistens aus.

Doch wieso machen wir trotzdem immer weiter – und halten diesen inneren Zustand aus (bis z.B. die Depression ausbricht)? – Das ist der zweite große Faktor: Es ist etwas makaber, aber dieser Zustand gibt uns Sicherheit. Neulich auf einer dieser Karten mit den tollen Sprüchen gelesen: „Am Ende der Nerven ist oft noch zu viel Kind übrig“ – und so ist es auch. Wir haben tief in uns eine enorme Sehnsucht nach Sicherheit; kombiniert mit dem Umstand, dass unser Hirn so angelegt ist, dass es bekannte Pfade höchst ungern verlässt, ergibt sich dann unsere „Komfortzone“: Die hat oft gar nicht so viel mit Komfort zu tun (siehe Burnout/Depression, Süchte oder auch körperliche Phänomene, wie Allergien oder einfach Fehlhaltungen aufgrund innerer Verkrampfung – schönen Gruß von den Physiotherapeuten!). Aber sie hat eben sehr viel mit Sicherheit zu tun. Es ist wirklich merkwürdig – das ist so, obwohl bzw. weil wir ständig im Widerstand sind. Das ist der Zustand, den wir kennen.

Natürlich gibt es auch noch weitere Dinge, die unser Leben beeinflussen. Doch das sind schon mal zwei sehr starke und insgesamt befinden viele von uns sich also in einer nicht so erfreulichen Zwickmühle.

Wenn wir also unserer Ahnung folgen wollen, dass wir mehr „funktionieren“ als „leben“ und wenn wir also eben zu uns selbst finden wollen – was können wir tun?

 

Hier die gute Nachricht:

Der erste Schritt ist bereits getan, wenn wir uns eben diese Zwickmühle bewusst machen. Selbstbewusstheit ist dabei nicht etwas, was wir an- oder ausknipsen. Es ist tatsächlich ein Stück vergleichbar mit einer Situation, in der wir einen lange kaum benutzten Muskel erstmal trainieren müssen, bis wir ihn (wieder) gut nutzen können. Darüber gelingt uns dann oft der zweite Schritt: Es gilt, sowohl den zahlreichen Einflüssen im Außen als auch den inneren, immer wieder ablaufenden alten „Schallplatten“ nicht länger zu glauben. Es geht also darum, nicht länger an sich selbst zu zweifeln, sondern eher an den Konzepten, die sich zwischen uns und unser Leben stellen; ‚Glaube nicht alles, was du denkst‘ ist hier ein sehr heilsames Motto. Was ist es, was unseren inneren Raum besetzt hält? Und wie gelingt es uns, Platz zu schaffen für neue Perspektiven und für die echte Entfaltung unseres eigenen Lebens?

Das ist genau das, was das Leben wirklich will. Sich selbst annehmen und entwickeln. Unser Leben findet einen eigenen Roten Faden – wenn wir es denn lassen –, auch wenn der manchmal anders verläuft, als wir denken. Was wir tun können ist, bewusst in uns hineinzuhorchen – und eben möglichst bewusst wahrzunehmen, was wir uns (immer noch) für Hindernisse in den Weg legen oder legen lassen, sei es durch äußere oder durch innere Einflüsse; vor allem aber, wahrzunehmen, in welche Richtung es uns zieht und unserem Herzen zu folgen. Wir sind die Erfüllung der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.

 

Braucht eine solche Selbstentwicklung Mut?

Ja, natürlich. Und das Synonym für Mut ist Courage: Das kommt aus dem Französischen und beinhaltet das Wort coeur, also Herz(!).

So wird Selbst-Ent-Deckung möglich und das eigene Leben zu einem großen, wunderbaren Abenteuer. Seneca, der römische Philosoph, brachte es vor etwa 2000 Jahren bereits ziemlich auf den Punkt: Nicht weil es schwer ist, wagen wir’s nicht – sondern weil wir’s nicht wagen ist es schwer!

 

 

von Hermann Häfele, erschienen im KGS Jan/Feb 2020, Heftthema „Den Sprung ins Ungewisse wagen“