♦ Rituale, Autonomie und der Rote Faden zu sich selbst ♦

 

Rituale und Glauben

Rituale sind laut Definition formelle, wiederholte weltliche oder religiöse Handlungen mit Symbolgehalt. Das geht sogar bis in die Politik: Hier können das ritualisierte (Schein-)Maßnahmen sein, welche nur den Eindruck erwecken, dass etwas geschieht. Die eigentlichen Probleme bleiben in Wirklichkeit ungelöst. Neben weiteren u.a. in Kultur und Heilungskunde gibt es außerdem effektive und erfolgreiche Rituale in der Psychotherapie (etwa in der Paartherapie oder z.B. bei Zwangsstörungen) u.v.m. Rituale als solches sind zunächst mal weder gut noch schlecht – es kommt darauf an, mit welcher Bedeutung sie aufgeladen werden, wie mit ihnen umgegangen wird und wozu sie dienen sollen. Meistens allerdings folgen sie einer Erzählung, an die wir glauben oder glauben sollen – und eben dieser Glaube wird durch die Rituale verstärkt.

Im christlichen Ritual des Abendmahls wird z.B. das Brot zum Leib Christi und der Wein zu seinem Blut. Im Mittelalter hielt der Priester in der stets auf lateinisch gehaltenen Messe das Stück Brot hoch und sagte dazu „Hoc est corpus meum“ – also „Dies ist mein Leib“. Die einfachen Menschen, die natürlich kein Latein konnten, waren da schon sehr erstaunt. Eine Hypothese besagt, dass so das Wort „Hokuspokus“ entstand(!) – jener Zauberspruch, mit dem dann in späteren Märchen und Geschichten z.B. Frösche in Prinzen verwandelt werden konnten. Natürlich haben auch Muslime, Hindus und Buddhisten ihre eigenen Erzählungen mit begleitenden Ritualen.

 

Autonomie

Autonomie ist ein Zustand der Selbstbestimmung und Unabhängigkeit, sie bedeutet Entscheidungs- und Handlungsfreiheit und die Fähigkeit, ja geradezu die Angewohnheit, Dinge immer wieder zu hinterfragen. Es ist ein Verdienst der Aufklärung, Autonomie geradezu postuliert zu haben, Kants „Sapere aude“ – also „Wage es, selbst zu denken“ bringt das auf den Punkt.

Etwas pragmatisch und vielleicht überraschend sehe ich das auch als Prozess des Erwachsenwerdens an – (das ist nicht biologisch gemeint). Erwachsen werden (wollen) und damit nach Autonomie zu streben ist ziemlich unabhängig vom Alter. Die meisten unserer Probleme rühren daher, dass wir es eben (noch) nicht sind oder werden wollen oder bisher nicht vermochten.

Wenn wir es aber diesen Weg einschlagen, Richtung Erwachsen-Sein und Autonomie –, wenn wir also zunehmend die Dinge, an die wir glauben, in Frage stellen und auch die bisher in unserem Leben kennen-gelernten Rituale, was bleibt dann noch? Gibt es dann einen lauten Knall und wir sind plötzlich „erleuchtet“, weil wir uns von allem „gelöst“ haben?

Das ist wohl kaum der Fall. Die Psychologin Rebecca Rosing hat mal einen großartigen Spruch geprägt: „Was nutzt Erleuchtung, wenn das Klopapier alle ist?“

 

Kurzausflug in die Spiritualität

Wenn wir verstanden haben, dass all dieser Glauben und die meisten dieser Rituale nichts weiter als Erzählungen sind, wird „unsere Welt“ immer noch vorhanden sein, inklusive aller weltlichen Themen; und sei es, dass wir Klopapier nachkaufen müssen. Doch wir können eine grundsätzliche heitere Offenheit in unser Leben hineinlassen. Wir müssen uns nicht mehr von allen Dramen davontragen lassen, weder von denen unserer Umwelt, noch von unseren eigenen.

Nur aus der Autonomie heraus und, eben etwas pragmatischer formuliert, aus einer Erwachsenenposition heraus können wir uns überhaupt einer Spiritualität gegenüber öffnen, was immer das für uns jeweils bedeutet: Ich persönlich denke – inspiriert durch Willigis Jäger – in diesem Zusammenhang sehr gerne an eine kleine Welle in einem großen Ozean – innerhalb dieser Welle „er- fahre“ ich mich als Bewusstsein, das sich selbst entdeckt und ich bin gleichzeitig das Meer. Und von Rupert Spira sagt das Folgende: Das eine ist der Bildschirm (die Realität, das ‚grenzenlose‘ Bewusstsein‘) und das andere ist das, was ich sehe und nur für real halte, nämlich die Bilder, Filme und Dramen, die sich im Bildschirm zeigen (erzeugt von meinen eigenen Gedanken, Emotionen und eben dem „abgetrennten Ich“).

 

Was also bedeutet das ganz praktisch für unseren Alltag?

Meist entstehen die Schwierigkeiten spätestens dann, wenn Gedanken entstehen (die wir glauben) und die dann ihrerseits Emotionen auslösen (die Dramen auf dem Bildschirm). Ganz schön viel Stress, was unser eingebildetes ICH da ständig „produziert“! Damit soll natürlich keinesfalls bestritten werden, dass es überaus herausfordernde, schmerzvolle Situationen gibt. Und auch nicht, dass die meisten von uns mit einem Rucksack voller Programmierungen, Muster und Traumata herumlaufen, die es nicht so leicht machen, den Schleier zu lüften.

Es geht hier ausschließlich darum, wie wir damit umgehen: Halten wir uns daran fest, dass wir irgendetwas glauben? Sind wir im Widerstand gegen das, was uns gerade passiert (etwa Leid und Schmerz) und versuchen, das mittels eines Rituals vermeiden oder „wegmachen“ wollen? Oder können wir es zulassen? Als unsere Erfahrung innerhalb eines grenzenlosen Bewusstseins?

 

Der Rote Faden zu uns selbst

Wenn diese Option die ganze Zeit da ist, warum nutzen wir sie nicht? Es ist, wie oben bereits erwähnt, als ob ein dichter Schleier über uns läge – wie zahlreiche Decken übereinander. Unser Geist ist sehr gut im Analysieren, Verschleiern und Erfinden von Erzählungen und, ja, er liebt es auch, nach Lösungen zu suchen.
Doch wenn wir wirklich einen ROTEN FADEN zu uns selbst finden wollen, sollten wir diese Decken eine nach der anderen ansehen, verstehen und dann entfernen bzw. sich entfernen lassen – wir können auch sagen, wir sollten uns selbst ent-DECKEN! Diese Selbsterforschung kann dann übrigens auch Freude und Leichtigkeit (zurück)bringen. Es empfiehlt sich, das aus der Position eines neugierigen, wertschätzenden Beobachters zu tun, sozusagen als unser innerer bester Freund bzw. beste Freundin – wohl wissend, dass auch das nur eine gedankliche Krücke ist. Und so kommen wir wieder zu den Ritualen zurück, die ja auch viel mit Gewohnheiten zu tun haben.

Sie können also sehr wohl sinnvoll sein: Wir können gleichsam als erstes Ritual anfangen, uns selbst „erwachsene“ Fragen zu stellen: Was denke und fühle ich gerade (das ist ein Teil von mir, doch ich bin weder meine Gedanken noch meine Emotionen)? Dann: Was für eine Art von Ritualen wäre meinem Leben zugewandt und würde mir gut tun? Das könnte etwas ganz einfaches sein – womöglich ein regelmäßiges Journal zu schreiben? Irgendeine Art von Meditation? Oder regelmäßig „einfach nur“ zehn Minuten auf dem Sessel zuhause zu sitzen und einfach mal wirklich nichts zu tun – das ist herausfordernder als man so denkt! Welche Art von Ritualen ist dazu geeignet, mich darin zu unterstützen, den ROTEN FADEN meines Lebensweges und zu meiner Lebensfreude zu finden? Rituale bekommen auf diese Weise eine ganz persönliche Bedeutung. Und so können sie wirklich eine kraftvolle Unterstützung für uns sein – Für uns als heiter-offene Ent-decker unseres Lebens.

 

von Hermann Häfele, erschienen im KGS 11/12-2020, Heftthema „Rituale“