Beziehungen und Selbstentfaltung

 

Du bist kein Tropfen im Ozean, Du bist ein gesamter Ozean in einem Tropfen (Rumi, 1207-1273).

Beziehungsmuster

Der häufig als „Papst der Paartherapie“ bezeichnete amerikanische Psychologe John Gottman unterscheidet drei plus zwei Beziehungsmuster.
Die ersten drei – die „stabilen“ – sind die lebhaft-impulsive Partnerschaften mit viel positivem, doch auch viel negativem Verhalten; intensives Verliebt-Sein wird gefolgt durch einen Absturz, der im schlimmsten Falle sogar Richtung Gewalt führen kann.
Daneben gibt es die konstruktiven Partnerschaften: Eher positives und eher negatives Verhalten halten sich die Waage, Konflikte werden konstruktiv ausgetragen; grundsätzliche Übereinstimmung in prinzipiellen Fragen kann dazu führen, dass die sexuelle Anziehung abnimmt. Das Ganze mag sich dann wie eine „WG Plus“ oder eine Art Kameradschaft anfühlen.
Bei den dritten, den konfliktvermeidenden Partnerschaften werden frühzeitig Auseinandersetzungen verhindert; weder Leidenschaft noch guter Umgang mit Problemen kann so erlernt werden und wenn es dann doch zum Konflikt kommt, dann in extremem Ausmaß.
Ein weiteres Muster sind die feindselig-engagierten Beziehungen – Kritik geht sehr oft Richtung Verletzung und so kommen kaum konstruktive Lösungen zustande. Und schließlich gibt es noch  feindselig-distanzierte Partnerschaften: Leidenschaftslos und unbeteiligt hat hier bereits eine innere Aufgabe der Beziehung stattgefunden.

Balancetheorie und apokalyptische Reiter

Gottman empfiehlt als Ausrichtung ein Verhältnis von 5:1 aus positivem und negativem Verhalten – im Sinne von der Beziehung zuträglich oder nicht (Balancetheorie). So entstünde eine grundsätzliche Stabilität in der Beziehung.

Die apokalyptischen Reiter sind…

1. Verallgemeinernde Kritik („du machst immer/nie“)
2. Verachtung („du immer mit deiner …“)
3. Rechtfertigung („ich hab doch nur“)
4. Mauern („ich will/kann darüber jetzt nicht sprechen“)

Sie bringen Beziehungen auf eine schiefe Ebene; Sicherheit, Vertrauen, Intimität, Liebe und gemeinsames Wachstum sowie Seelenverbindung kommen nicht zustande, werden gestört oder mit der Zeit untergraben – also ausgerechnet all das, was man sich so sehr von einer Beziehung wünscht.

Beziehungen und Projektionen

In nahezu jedem Falle sind wir mit der allzu menschlichen und zunächst einmal völlig normalen Eigenschaft konfrontiert, zu projizieren.
Es ist durchaus legitim, sich im Sinne eigener gesunder Positionierung, über eigene Prinzipien und Werte klar geworden zu sein. Doch unser „Ego“ oder unser „Verstandesdenken“ projiziert unsere eigene Black-Box, mit all ihren Hoffnungen, Erwartungen, Ängsten und Konzepten auf die Verbindung. Das geschieht allzu häufig aus einem Mangelbewusstsein heraus: Wir hoffen, das, was uns innerlich fehlt, im Außen zu finden.

Der amerikanische Autor Stephen Covey spricht vom „ersten Skript“ und vom „zweiten Skript“. Das erste sind die von Eltern, anderen Erwachsenen und Bezugspersonen sowie Medien
übernommenen Konzepte, Meinungen und Beurteilungen der Welt – in „gut und böse“, in das, was „man tut“ oder „was man nicht tut“ sowie was denn die verfolgenswerte Motive und Ziele sind und was nicht.  Die Gefahr groß, im „ersten Skript“ zu verbleiben und letztlich ; auch und gerade Konflikte und Probleme versucht man, auf „kindliche“ Art und Weise als erwachsene Kinder das zu leben oder nachzuleben, was man „gelernt“ hat zu lösen.
Stephen Covey lädt uns also ein, Selbstverantwortung zu übernehmen und unser „zweites Skript“ zu schreiben, zu überlegen, was wir sein wollen, wer wir sind und dann zu dem zu „er-wachsen“, was wir sind. Ist das der einfache Weg? Nein, ganz gewiss nicht – es ist ein Weg, der deutlich herausfordernder ist, denn er bedingt das eigene Kennenlernen und die Bereitschaft, sich selbst immer mehr zu ent-decken, also eine Decke nach der anderen zu entfernen; wie eine Rückwärts-Zeitlupe eine Projektion (auf andere) nach der anderen zu sich (zurück)zunehmen und zu prüfen, was das mit einem selbst zu tun hat.

Von innen nach außen und die 40cm

Beziehungen sind eine ambivalente Angelegenheit: Sie können uns, wenn wir nicht aufpassen, geradewegs in das Ausleben unseres ersten Skripts bringen, dann werden es weder stabile noch nährende Verbindungen sein, obwohl wir uns vielleicht einbilden, doch alles „richtig zu machen“. Sie können uns jedoch auch – wie eine Art Katalysator – darin unterstützen, erwachsen zu werden.
Von jenen Fällen abgesehen, wo es gewiss angezeigt ist, eine Beziehung zu verlassen – etwa, wenn diese toxisch oder nur auf Destruktivität ausgerichtet ist –, können wir Anstöße und Impulse empfangen, welche „Schicht“ in uns dran ist, abgetragen bzw. überhaupt erst einmal gesehen zu werden. So nähern wir uns vielleicht einer konstruktiven und engagierten Partnerschaft, ohne, dass die Leidenschaft verloren geht.  

Wie also kommen wir aus den „Fallen“ des ersten Skripts heraus und bleiben bei uns selbst?
Der Verstand wird uns kaum dabei helfen, doch etwa 40cm südwestlich davon befindet sich das Herz. Unser Herz und unsere Intuition können uns den Weg weisen, wenn wir offen sind dafür. Und sie sind sozusagen die direkte Brücke zur Seele.

Weiterentwicklung und Praxis

Wenn die Phase der Verliebtheit zu Ende geht, entsteht häufig Ent-Täuschung: Die Versuchung ist groß, sich aus dem eigenen nicht geheilten Mangelbewusstsein und der Sehnsucht nach irgendeiner Nähe bzw. nach einer erhofften Sicherheit auf eine vermeidende Partnerschaft einzulassen und sich „anzupassen“. Häufig wird auch die Enttäuschung zum Abbruch führen; einfach nach dem nächsten Menschen im Außen zu suchen bringt einen allerdings oft wiederum an denselben Punkt.    

Erst, wenn man sich selbst liebt, kann man lieben; erst, wenn man sich selbst vertraut, kann man vertrauen. Dann kann man mutig das Kennenlernen immer tieferer Schichten zulassen und beim Ent-decken eine Decke nach der anderen „beiseite nehmen“.  

Eine solche Entwicklung kann besonders kraftvoll in einer Beziehung gelingen – mit viel Bewusstheit und Vertrauen. Von Familie und Gesellschaft übernommene Konzepte aus dem eigenen Kopf herauszubekommen, hilft dabei ungemein.
Hilfreich für die Umsetzung sind z.B. Eye-Gazing (einander schweigend für mindestens zehn Minuten anschauen) und die sogenannte Transparente Kommunikation (einander mindestens zehn Minuten wirklich zu sagen, wie es bei einem auf allen Ebenen aussieht, während das Gegenüber wirklich zuhört und dann das, was angekommen ist, wiedergibt). Und natürlich das sogenannte Ehrliche Mitteilen: So baut sich Vertrauen auf.   
Sich selbst und einander immer wieder zu verzeihen, gehört ebenfalls dazu, denn man wird auf diesem Wege bisweilen straucheln und zurückfallen in alte Muster und Programme aus dem ersten Skript – wichtig ist, dass man es überhaupt bemerkt.

Wenn wir also viel mehr dem Herzen und der Seele folgen, dann ermöglicht das neben der eigenen Selbstentfaltung ein neuartiges, reifes und ungeheuer lebendiges Miteinander, das von echter Liebe getragen wird.