♦ Atmen, Gesundheit und Lebensfreude ♦
Der Hintergrund
Es ist überaus häufig spannend und manchmal erhellend, sich mit der Frage zu beschäftigen, woher bestimmte Worte kommen; zu spüren, welche Assoziationen unsere Vorfahren oder auch andere Kulturen mit ihnen verbanden und welche ursprüngliche Bedeutung sie in verschiedenen Mythologien hatten bzw. haben.
Gesundheit stammt aus dem Althochdeutschen („gisunt“) und bedeutet u.a. „wohlbehalten, lebendig“.
Das deutsche Wort „Atem“ kommt ursprünglich aus „Atman“ (Lebenshauch, Atem): Dieser Begriff aus dem Sanskrit beschreibt in der indischen Philosophie das (absolute) Selbst, die unzerstörbare Essenz des Geistes.
Auch in zahlreichen anderen Sprachen und Mythologien wird man fündig: Im Lateinischen spirare steckt der spiritus, der heilige Geist. Das chinesische „Chi“ steht für Lebenskraft und Atem. Im Griechischen findet sich „Pneuma“ – hauch, ätherisches Feuer, Seele, Lebensgeist. Und als letztes von vielen Beispielen gibt es das „Ha“ im Hawaiianischen, das ebenfalls die Essenz des Lebens bezeichnet. Der Begriff wird auch verwendet, um Atem und seine Variationen zu beschreiben. Atmen, Gesundheit und Leben hängen wirklich unmittelbar zusammen – etwas, das atmet ist lebendig.
Das Wollen und das Leiden
Woher kommt es, dass wir uns dennoch oft so schwer tun mit dem Leben? Wie kommt es, dass wir oft unglücklich sind, dass wir unter uns selbst und vermeintlich dem Leben leiden und genau das dann auch in unserem Körper und nicht zuletzt in unserer Atmung spüren? Es ist das Verdienst von Dr. Leslie Farber, der sich intensiv mit der Psychologie des Willens auseinandergesetzt hat, eine besondere Wurzel dieses Leidens aufgespürt zu haben. Laut Leslie Farber betätigt sich unser Wille – unsere Fähigkeit auszuwählen – in zwei verschiedenen Bereichen. Der erste ist die Domäne der Objekte, das sind bestimmte Dinge, die wir direkt WÄHLEN können. Der zweite umfasst Richtungen/Ziele – das sind jene Realitäten, die nicht direkt ergriffen oder gewählt werden können; tatsächlich, warnt Farber, können Ziele und Richtungen verzerrt, sogar zerstört werden, wenn man versucht, sie zu beherrschen. Dies aber ist der Lieblingssport unseres Egos – oder, wenn man so will, unseres Verstandes: In seiner Sucht nach Sicherheit eben alles beherrschen und kontrollieren zu wollen und sei es mit technischer Hilfe.
Bringt man also die beiden Bereiche durcheinander – versucht man Richtungen/Ziele so zu behandeln, als wären sie Objekte – so entstehen Ängste. Ängste, weil die Verwechslung von Objekten und Richtungen zum Misserfolg führen muss. Der Bruch zwischen dem Willen und dem unerreichbaren Ziel wird bei jedem fehlgeschlagenen Versuch, mit dem Willen zu erzwingen, was nicht erzwungen werden kann, tiefer.
Beispiele: „Je mehr ich versuche, einzuschlafen, umso wacher werde ich“ oder „Je mehr ich versuche, glücklich zu sein, desto elender fühle ich mich.“
Heute wird in vielen Feldern versucht, „Richtungen und Ziele“ unter technische Kontrolle zu bringen. Auch das Ziel der (physischen) Gesundheit – anstatt sich zum Beispiel auf alles zu konzentrieren, was das eigene Immunsystem kräftigt sowie auf alles, was uns selbst in unserem Mensch-Sein stärkt. Durch den Versuch, zu steuern und zu beherrschen, zerstören wir ironischerweise gerade genau das, was wir erstreben.
Welche Wahl müssen wir also treffen, damit wir zu einem gesunden Mensch-Sein kommen und erfüllt leben?
Leben und Bewusstheit
Was wir tatsächlich schaffen können, ist, zu mehr Bewusstheit zu kommen. Wir können zunehmend aufmerksam aus der Warte eines neugierigen und wohlwollenden, nicht bewertenden Beobachters auf uns blicken. Wir werden – Offenheit vorausgesetzt – auf Muster treffen, die uns immer wieder von einem glücklichen Leben abbringen wollen. Das sind meist Programme, die wir uns irgendwann zugelegt haben (fast immer, um uns zu schützen), welche trotz ihrer guten „Motive“ Lebenskraft unterdrücken – und nicht selten werden wir krank. Ganz im Sinne der eingangs vorgestellten Reise durch Sprachen und Wortbedeutungen sind wir nicht mehr „heile“ – das kann sich auf verschiedenste Weise manifestieren. „Bewusstheitstraining“ lohnt sich also – es ist weniger etwas furchtbar anstrengendes, sondern eher wie eine bewusste Öffnung, die es immer wieder herzustellen gilt.
Einstellung und Haltung zum Leben
„Ich (…) wollte wohlüberlegt leben; intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten was nicht Leben war. Damit ich nicht in der Todesstunde inne würde, dass ich gar nicht gelebt hatte“ – diese berühmten Zeilen des amerikanischen Philosophen und Schriftstellers Henry David Thoreau (1817-1862) kann man durchaus als persönliche Agenda und als Roten Faden für sich selbst übernehmen.
Er liefert uns für dieses „wohl Überlegen“ gleich eine tatsächlich hilfreiche Orientierung mit. Wir können alles, was wir tun und denken gegen folgende Frage abgleichen: Ist das meinem Leben zugewandt oder eher abgewandt? Natürlich ist das noch keine „Lösung“, sehr wohl aber so etwas wie die „halbe Miete“: Denn genau das ist mit der obigen Bewusstheit gemeint – sie ist die Grundvoraussetzung für jegliche Form der Entwicklung.
Und was genau bedeutet das praktisch?
„Es geht darum, zu atmen und das Leben wirklich zu spüren …“
Brice Delsouiller ist Kuhhirt in den Pyrenäen. Er ist gleichzeitig Extremsportler und Bergläufer. Er berichtet von dem wunderbaren Lebensgefühl, wenn er seinem Körper alles abverlangt und er gleichzeitig die grenzenlose Weite der Berge genießt. Er atmet und spürt und gibt sich ganz dem Leben hin.
Und nein, selbstverständlich müssen wir keine Extremsportler werden – das Spüren, von dem Brice Delsouiller spricht, ist uns auch so möglich. So kommen die Fäden zusammen: Wenn wir uns auf das fokussieren, was wir wirklich erreichen können, haben wir bereits viel gewonnen. Und der gesunde Abstand zu uns – und unserem eigenen Ego – relativiert viel von dem Drama, das wir selbst in uns veranstalten.
So kann also eine vielleicht etwas andere Definition von Gesundheit entstehen: Gesundheit wird ermöglicht, wenn wir unser Leben ernst nehmen und uns zu immer mehr „Lebenszugewandtheit“ hin entwickeln. Gleichzeitig – Anthony Hopkins hat es im einleitenden Zitat schön auf den Punkt gebracht – gilt es, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen und wirklich das Leben, das wir haben, bestmöglich genießen und alles willkommen zu heißen, was uns und durch uns hindurch passiert. Mit jedem Atemzug. Das ist genau das, was Lebendigkeit bedeutet und so werden wir offen für Lebensfreude. Und mehr können wir für unsere Gesundheit nicht tun.
von Hermann Häfele, erschienen im KGS 3/4-2021, Heftthema „Heilsamer Dialog“